Gedicht der Woche
24.Januar 2021
von Monika Spatz (Kommentare: 0)
Der Abend ist mein Buch
Der Abend ist mein Buch. Ihm prangen
die Deckel purpurn in Damast;
ich löse seine goldnen Spangen
mit kühlen Händen, ohne Hast.
Und lese seine erste Seite,
beglückt durch den vertrauten Ton, -
und lese leiser seine zweite,
und seine dritte träum ich schon.
Rainer Maria Rilke
17.Januar 2021
von Monika Spatz (Kommentare: 0)
Die Selbstkritik hat viel für sich
Die Selbstkritik hat viel für sich.
Gesetzt den Fall, ich tadle mich:
So hab ich erstens den Gewinn,
Dass ich so hübsch bescheiden bin;
Zum zweiten denken sich die Leut,
Der Mann ist lauter Redlichkeit;
Auch schnapp ich drittens diesen Bissen
Vorweg den andern Kritiküssen;
Und viertens hoff ich außerdem
Auf Widerspruch, der mir genehm.
So kommt es denn zuletzt heraus,
Dass ich ein ganz famoses Haus.
Wilhelm Busch
10.Januar 2021
von Monika Spatz (Kommentare: 0)
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise Jahrtausende lang;
und ich weiß noch nicht:
bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.
Rainer Maria Rilke
3.Januar 2021
von Monika Spatz (Kommentare: 0)
Regen
Der Regen geht als eine alte Frau
mit stiller Trauer durch das Land.
Ihr Haar ist feucht, ihr Mantel grau,
und manchmal hebt sie ihre Hand
und klopft verzagt an Fensterscheiben,
wo die Gardinen heimlich flüstern.
Das Mädchen muß im Hause bleiben
und ist doch gerade heut so lebenslüstern!
Da packt der Wind die Alte bei den Haaren,
und ihre Tränen werden wilde Kleckse.
Verwegen läßt sie ihre Röcke fahren
und tanzt gespensterhaft wie eine Hexe!
27.12.2020
von Monika Spatz (Kommentare: 0)
Beschränkung
20.Dezember 2020
von Monika Spatz (Kommentare: 0)
Dämmerstille Nebelfelder,
schneedurchglänzte Einsamkeit,
und ein wunderbarer weicher
Weihnachtsfriede weit und breit.
Nur mitunter, windverloren,
zieht ein Rauschen durch die Welt,
und ein leises Glockenklingen
wandert übers stille Feld.
Und dich grüßen alle Wunder,
die am lauten Tag geruht,
und dein Herz singt Kinderlieder,
und dein Sinn wird fromm und gut.
Und dein Blick ist voller Leuchten,
längst Entschlaf’nes ist erwacht…
Und so gehst du durch die stille
wunderweiche Winternacht.
Wilhelm Lobsien
13.Dezember 2020
von Monika Spatz (Kommentare: 0)
Das Feld ist weiß, so blank und rein
Vergoldet von der Sonne Schein,
Die blaue Luft ist stille;
Hell wie Kristall
Blinkt überall
Der Fluren Silberhülle.
Der Lichtstral spaltet sich im Eis,
Er flimmert blau und roth und weiß,
Und wechselt seine Farbe.
Aus Schnee heraus,
Ragt, nackt und kraus,
Des Dorngebüsches Garbe.
Von Reifenduft befiedert sind
Die Zweige rings, die sanfte Wind'
Im Sonnenstral bewegen.
Dort stäubt vom Baum
Der Flocken Flaum
Wie leichter Blüthenregen.
Tief sinkt der braune Tannenast
Und drohet mit des Schnees Last
Den Wandrer zu beschütten;
Vom Frost der Nacht
Gehärtet, kracht
Der Weg von seinen Tritten.
Das Bächlein schleicht, von Eis geengt;
Voll lauter blauer Zacken hängt
Das Dach; es stockt die Quelle;
Im Sturze harrt,
Zu Glas erstarrt,
Des Wasserfalles Welle.
Die blaue Meise piepet laut;
Der muntre Sperling pickt vertraut
Die Körner vor der Scheune.
Der Zeisig hüpft
Vergnügt und schlüpft
Durch blätterlose Haine.
Wohlan! auf festgediegner Bahn
Klimm' ich den Hügel schnell hinan,
Und blicke froh ins Weite,
Und preise den,
Der rings so schön
Die Silberflocken streute.
Johann Gaudenz von Salis-Sewis
6.Dezember 2020
von Monika Spatz (Kommentare: 0)
Alles still
Alles still! Es tanzt den Reigen
Mondenstrahl in Wald und Flur,
Und darüber thront das Schweigen
Und der Winterhimmel nur.
Alles still! Vergeblich lauschet
Man der Krähe heisrem Schrei.
Keiner Fichte Wipfel rauschet,
Und kein Bächlein summt vorbei.
Alles still! Die Dorfeshütten
Sind wie Gräber anzusehn,
Die, von Schnee bedeckt, inmitten
Eines weiten Friedhofs stehn.
Alles still! Nichts hör ich klopfen
Als mein Herze durch die Nacht -
Heiße Tränen niedertropfen
Auf die kalte Winterpracht.
Theodor Fontane
29.November 2020
von Monika Spatz (Kommentare: 0)
Verse zum Advent
Noch ist Herbst nicht ganz entflohn,
Aber als Knecht Ruprecht schon
Kommt der Winter hergeschritten,
Und alsbald aus Schnees Mitten
Klingt des Schlittenglöckleins Ton.
Und was jüngst noch, fern und nah,
Bunt auf uns herniedersah,
Weiß sind Türme, Dächer, Zweige,
Und das Jahr geht auf die Neige,
Und das schönste Fest ist da.
Tag du der Geburt des Herrn,
Heute bist du uns noch fern,
Aber Tannen, Engel, Fahnen
Lassen uns den Tag schon ahnen,
Und wir sehen schon den Stern.
Theodor Fontane
22.November 2020
von Monika Spatz (Kommentare: 1)